Warum eine Medienkotz-Funktion sinnvoll wäre

Je nach Studie und Alter verbringen wir täglich zwischen vier- bis zehnmal mehr Zeit mit Medienkonsum als mit Essen und Trinken. Während ein Durchschnittsfranzose noch ganze zwei Stunden und elf Minuten pro Tag dem genussvollen Essen und Trinken widmet, wird bei einer Durchschnittsamerikanerin die Nahrung in einer Stunde und einer Minute gedownloadet. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch bei uns die Zeit für Nahrungsaufnahme abnimmt – während diejenige für die digitale Nahrungsaufnahme zunimmt. Wie diese Veränderung auf uns wirkt und was sie mit unserem Körper und Geist anstellt, ist noch sehr ungenügend bekannt und Gegenstand eifriger Forschung.

Mich faszinieren die vielen Parallelen zwischen herkömmlicher Nahrungsaufnahme und Medienkonsum. Essen und Trinken ist ein bisschen wie russisches Roulette für unseren Körper, denn weder der arme Magen noch die scheue Leber wissen ja, was von oben herab auf sie zukommt. Generell können wir zwischen drei Kategorien von Nahrung unterscheiden. Erstens qualitativ brauchbare und nützliche Nahrung, die vom Körper direkt in Energie umgewandelt wird. Zweitens qualitativ ungenügende oder überflüssige Ware, die unser Körper auf normalem Weg ausscheidet. Und drittens gefährliche und schädliche Nahrung, bei der unser Körper ein Notfallprogramm startet und eine sofortige Umleitung des Verdauungszyklus einleitet. Idealerweise halten wir dabei unseren Kopf über die Toilette und warten, bis der Auto-Upload von Nahrung fertig ist, um uns danach dem Reboot-Prozess unseres Körpers zu widmen.

Lehrreiche Sequenzen und hilfreiches Vergessen

Wenn wir diese drei Qualitätskategorien nun auf unseren digitalen Medienkonsum übertragen, dann sieht es ungefähr so aus. Erstens haben wir Inhalte in Form von Text, Ton, Bild und Video, die unseren spezifischen Bedarf an Informationen decken. Grosspapi schaut die «Tagesschau», Mutti schaut sich ein Torten-Dekorations-Ideen-Video auf Youtube an, und die Tochter liest die sechs Seiten im Geschichtsbuch für die morgendliche Prüfung. Diese Mediennahrungsaufnahme macht uns schlauer, intelligenter und kompetenter.

Als zweite Kategorie haben wir einen Ozean von Unterhaltung von Chats über Netflix-Serien, «Fortnite»-Game, Champions League bis zu Büsi-Videos. Die lehrreichen Sequenzen merken wir uns dabei in der Hoffnung, dass wir uns daran erinnern, falls die Info dann wirklich mal nützlich wäre. Lifehack auf gut Deutsch. Für die unzähligen Stunden von überflüssigem Inhaltskonsum hat unser Hirn als Verdauungsorgan eine allgemein unterbewertete Ausscheidungsmethode: das Vergessen. Es handelt sich auch hier um ein von unserem Körper weitgehend autonom gesteuertes Programm, bei dem Schrott von Nützlichem getrennt wird.

Nebenwirkungen und die Wunderwaffe

Falls Sie bis jetzt aufmerksam gelesen haben, merken Sie schon, dass die dritte Kategorie von Medienkonsum durchaus ein Risiko birgt. Leider ist es in der Tat so, dass unser Hirn keine Kotzfunktion für IS-Hinrichtungsvideos, üble Cybermobbing-Inhalte oder auch Unter-der-Gürtellinie-Tweets vom amerikanischen Präsidenten hat. Und genau hier liegt der fundamentale Unterschied. Während unser Körper sofort und automatisch handelt, um giftige Nahrung oder zu viel Alkohol aus dem System zu befördern, müssen wir uns mit schädlicher Mediennutzung erst mal selbst zurechtfinden. Albträume können so zum Beispiel als Verdauungsschwierigkeit von problemhaftem Filmkonsum gedeutet werden. Physische und psychologische Aggressivität eines Jugendlichen können durchaus als Nebenwirkung von übermässiger digitaler Ernährung durch (Gewalt darstellende) Videogames interpretiert werden.

Da wir alle eigentlich immer noch in den Kinderschuhen stecken, wenn es um das Verständnis und das Nutzenpotenzial von digitalen Medien geht, müssen wir leider davon ausgehen, dass uns die fehlende «Medienkotz-Funktion» noch vor viele gesundheitliche Herausforderungen stellen wird. Bis unser Körper bzw. unser Geist in hoffentlich ein paar Hunderttausend Jahren ein solches Feature entwickelt hat, heisst die Wunderwaffe genau wie beim Essen und Trinken auch beim Umgang mit digitalen Medien: Prävention. Leider knüppelharte Arbeit für uns Eltern.

Dieser Artikel ist erstmals im Tages-Anzeiger erschienen.

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